Sehr geehrte Patientin, sehr geehrter Patient.
Sie haben leider bereits mehrere Schwangerschaften durch eine Fehlgeburt verloren. Es ist nun die Frage aufgekommen, ob erbliche Gründe die Ursache hierfür sind. Dies könnte bedeuten, dass Sie ein höheres Risiko für weitere Fehlgeburten haben, welches man vielleicht durch eine gezielte Behandlung verringern kann. Manche erbliche Gründe für Fehlgeburten signalisieren jedoch auch ein erhöhtes Risiko für eine kindliche Erkrankung. Dies soll nun abgeklärt werden - Ihr Frauenarzt/ Ihre Frauenärztin hat Sie zur Genetischen Beratung überwiesen. Im Folgenden will ich für Sie noch einmal die häufigen genetischen Gründe für wiederholte Fehlgeburten zusammenfassen, so wie wir sie heute besprochen haben.
Die häufigste Ursache für Fehlgeburten in den ersten 3 Schwangerschaftsmonaten sind zahlenmäßige Chromosomenstörungen, wie z.B. eine Trisomie 21 (Down-Syndrom).
Unser Erbgut ist auf 46 Chromosomen verteilt, die in jeder Zelle enthalten sind. Wir können ihre Zahl und Struktur aus einer Blutprobe gezielt untersuchen. Es handelt sich um 23 Paare von je 2 einander ent-sprechenden Chromosomen (homologe Chromo-somen). Diese sehen nicht nur gleich aus, sondern tragen auch die Erbinformation für die gleichen Körpermerkmale: wir verfügen für fast jedes Gen über 2 Kopien. Ein Paar dieser Chromosomen sind die Geschlechtschromosomen, die sich unterscheiden können: Frauen tragen in ihren Zellen 2 X-Chromosomen, Männer ein X- und ein Y-Chromosom.
Vor der Befruchtung werden in Ei- und Samenzelle die beiden einander entsprechenden Chromosomen eines jeden Chromosomenpärchens getrennt, und damit jeweils die beiden Kopien eines jeden Gens. Die reife Ei- und Samenzelle enthält damit 23 Einzelchromosomen, darunter ein Geschlechtschromosom. Bei der Befruchtung verschmelzen Ei- und Samenzelle zur befruchteten Eizelle mit nun wieder 46 Chromosomen. Das Kind hat damit jeweils ein Chromosom eines jeden Chromosomenpärchens vom Vater, das 2. von der Mutter.
Bei der Trennung der Chromosomen kommt es sehr häufig zu Fehlern, Mitunter trennen sich die beiden Chromosomen eines Chromosomenpärchens nicht, sondern gelangen gemeinsam in eine Eizelle/Samenzelle. Es entsteht eine Ei/Samenzelle mit einem überzähligen Chromosom, der zweiten Keimzelle fehlt es. Die Zelle mit dem verringerten Chromosomensatz wird absterben und nicht befruchtet werden. Die Zelle mit dem überzähligen Chromosom kann befruchtet werden, es entsteht ein Embryo mit einem dreifachen Satz eines Chromosoms, insgesamt 47 Chromosomen. Dies kann grundsätzlich jedes Chromosom betreffen, ein häufiges Beispiel ist die o.g. Trisomie des Chromosoms 21.
Aus der befruchteten Eizelle entstehen Embryo und Plazenta. In über 90% der Fälle werden sie sich mit einem überzähligen Chromosom nicht richtig entwickeln können, es kommt zur Fehlgeburt. Untersucht man Fehlgeburten der ersten drei Schwangerschsftsmonate, findet sich bei 60-70% eine Chromosomenstörung. Selten reift ein Kind mit einer Chromosomenstörung bis zur Geburt aus. Ausgenommen die Geschlechtschromosomen führen Veränderungen der Chromosomenzahl immer zu einer Störung der kindlichen körperlichen und geistigen Entwicklung.
Selten sind Veränderungen der Chromosomenstruktur bei einem der Eltern. So können verschiedene Chromosomen kleine Abschnitte miteinander austauschen. Wir nennen dies eine Translokation. Wenn der Bruch der beiden beteiligten Chromosomen in einer genetisch nicht aktiven Region geschehen ist, wird er ohne Folgen bleiben: die Gene sind vollständig und funktionell, nur verlagert. Wir nennen eine solche Translokation balanciert - der Träger ist körperlich und geistig völlig gesund.
Bei der Aufteilung der Chromosomen vor der Befruchtung kann es jedoch zu einer Kombination der nicht zueinander passenden Chromosomen kommen, dadurch zu einem Verlust oder einer Zunahme der Erbinformation, einer dann unbalancierten Translokation. Ein Embryo mit einer solchen unbalancierten Translokation wird sich zumeist nicht weiterentwickeln können, es kommt zu einer frühen Fehlgeburt, die u.U. nur als Fertilitätsstörung wahrgenommen wird. Ein Kind mit einer unbalancierten Translokation wird in seiner körperlichen und geistigen Entwicklung sehr eingeschränkt sein, unabhängig von den beteiligten Chromosomen und der Größe der verlagerten Chromosomenabschnitte. In sehr großem Umfang lassen sich Strukturveränderungen der Chromosomen wie die beschriebenen Translokationen in einer Blutuntersuchung oder vorgeburtlich durch z.B. eine Fruchtwasseruntersuchung in einer Chromosomenanalyse erkennen.
In den letzten Jahren wurde die erblich bedingte Thromboseneigung (Thrombophilie) der Frau als mögliche Fehlgeburtsursache erkannt. Thrombosen sind spontane Blutgerinsel in Blutgefäßen. In unserer durchschnittlichen Bevölkerung sind Thrombophilien durch Veränderungen der Gene für den Gerinnungsfaktor V und das Prothrombin relativ häufig. Sie lassen sich durch einen Gen-Test aus einer Blutprobe gut erkennen. Eine Thrombophilie durch eine Genveränderung des Gerinnungsfaktors Protein S ist zwar selten, spielt jedoch bei Fehlgeburten eine größere Rolle. Da der entsprechende Gentest sehr aufwendig ist, sollten hier zunächst der Blutspiegel und die Aktivität dieses Gerinnungsfaktors geprüft werden. Bei niedrig normalen Werten kann dann auch hier eine Analyse des Gens erfolgen. Die genetische Veränderung erhöht das Thromboserisiko auf das etwa 5-8 fache. Nur etwa 30% der genetisch Betroffenen entwickeln tatsächlich im Laufe ihres Lebens eine Thrombose. Sie benötigen in den bekannten Thrombose-Risikosituationen, z.B. in einer Schwangerschaft, unter der Geburt und im Wochenbett eine angepasste Thromboseprophylaxe, sollten u.U. keine oralen Kontrazeptiva einnehmen. Dies kann von einem Gerinnungsspezialisten erläutert und betreut werden. Es ist im Moment noch nicht sicher, ob sich Fehlgeburten bei Thrombophiliepatientinnen durch spezielle Blutverdünner (Heparinpräparate) verhindern lassen.
Wir haben auch gemeinsam Ihre eigene Krankengeschichte und Familienanamnese zusammengestellt, dabei auf Erkrankungen/ Befunde geachtet, die zu einer Fehlgeburtsneigung führen könnten. Sie erhalten innerhalb der nächsten 2-3 Wochen einen ausführlichen Brief mit allen Untersuchungsergebnissen. Sollte sich tatsächlich ein auffälliger Befund in der Chromosomen-Analyse oder Thrombophiliediagnostik ergeben, werde ich ihn mit Ihnen ausführlich besprechen und Ihnen Vorschläge für das weitere Vorgehen darlegen.